Frau sitzt eingekauert in einer Wohnungsecke

Wie ist es einen Femizidversuch zu überleben?

Vom Mut auszubrechen

8 Min.

© Unsplash/Logan Weaver

Renate Hofer hat vor über 20 Jahren einen Femizid Versuch überlebt. Bis heute hat sie mit den Nachwirkungen zu kämpfen, dennoch unterstützt sie andere Frauen in ähnlichen Situationen in der Initiative „Mutausbruch“. Ihre beeindruckende Geschichte erzählte sie der STEIRERIN.

Es ist Valentinstag im Jahr 2002. Renates Ehemann taucht bei ihrer Arbeit auf, er ist wütend – davor hatte sie ihm schon gesagt, dass sie ihn nicht mehr liebe. Er zwingt sie, nach Hause zu fahren. Danach kann sich Renate an nichts mehr erinnern. Erst fünf Wochen später erwacht sie aus dem Koma.

Bei der Einlieferung ins Kranken­haus wurden ein schweres Schädel-­Hirn-Trauma und Hirnblutungen festgestellt. Zuerst ging man von einem Suizidversuch aus: Renate sei unter ungeklärten Umständen von ihrem Balkon gestürzt. Bald stellte sich aber heraus: Weder das eine noch das andere traf zu. Bereits als sie noch im Koma lag, reagierte ihr Unterbewusstsein auf Besuche ihres Mannes und ihrer Schwiegereltern mit einem extremen Anstieg der Gehirnwellen, wie die EEG-Aufzeichnungen zeigten. Als sie aufwachte, litt sie unter Amnesie, jahrelang wird sie nicht richtig sprechen können. Später teilte die Kriminalpolizei Renate mit, dass ihr Mann wegen Mordversuch in Untersuchungshaft sitzt. Es konnte rekonstruiert werden, dass er sie mit voller Wucht mit dem Kopf gegen eine Wand oder mit einem Gegenstand geschlagen hatte.

Im nachfolgenden Prozess ist der Täter nicht geständig, er behauptet bis zum Obersten Gerichtshof, dass es sich um einen Suizidversuch gehandelt habe. Bis heute lebt Renate mit den Folgen der Tat. Sie saß einige Zeit im Rollstuhl, trägt mehrere Innenohrprothesen, ihr Gehör mit Tinnitus auf der rechten Seite ist auf 20 Prozent reduziert. Mit der Diagnose Epilepsie musste sie lernen umzugehen, ihr Geschmacks- und Geruchssinn hat nachgelassen und Schluckbeschwerden durch den Intubationsschnitt sind ihr täglicher Begleiter. Schlussendlich wurde der Täter zu 13 Jahren Haft verurteilt. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus ging Renate in ein Frauenhaus, da sie von ihren Eltern statt Unterstützung nur Vorwürfe bekam. Begonnen hat Renates Leidensgeschichte schon in ihrer Kindheit.

Ein kraftvolles Nein ist ein liebevolles Ja zu dir selbst.

Renate Hofer
Renate Hofer hat vor über 20 Jahren einen Femizid Versuch überlebt.
Renate Hofer hat vor über 20 Jahren einen Femizid Versuch überlebt.

Wie würden Sie Ihre Kindheit beschreiben?
Renate Hofer: Gewalt zog sich durch mein Leben wie ein roter Faden. Meine Mutter wandte physische Gewalt an, mein Vater ergänzte sie auf der psychischen Ebene. Als ich 17 Jahre alt war, wurden meine Großmutter, meine Schwester und mein Hund tödliche Opfer eines jungen Autofahrers. Danach war es mit meinen Eltern noch schlimmer. Ich bin auf dem Land aufgewachsen und wurde immer kleingehalten, meine Wünsche haben nie gezählt. Auf dem Land war Bildung eher nicht so wichtig und Frauen wurden eher in etwas hineingepresst, was sie gar nicht wollten. Ich hatte einfach zu funktionieren. Natürlich wächst man dann ohne Selbstliebe auf.

Ein Mann sieht recht schnell, wenn er mit dir machen kann, was er will. Denn eine selbstbewusste Frau sagt: Entweder Augenhöhe oder Schluss. Als ich damals aus meinem gewalttätigen Elternhaus in Verzweiflung weg bin, hätte ich eigentlich Hilfe in Anspruch nehmen müssen und mir eine eigene Wohnung suchen – stattdessen bin ich genau bei so einer Art Mann gelandet. Damals wusste ich nicht, dass es Gewaltschutzzentren oder heute auch die Gewaltambulanz gibt.

Wie ging es nach dem Gerichtsprozess weiter?
Nach andauerndem Psychoterror durch meinen Ex-Mann und einer kurzen zweite Ehe habe ich wirklich lange gebraucht, bis ich wusste, was selbstbestimmtes Leben ist. Man sehnt sich nach einer Beziehung, aber wenn man selbst nicht gefestigt ist, wiederholen sich dieselben Muster immer wieder.

Wann kam der Wendepunkt?
In meiner mehrjährigen Singlezeit hat dann die intensivste Veränderung begonnen. Ich habe angefangen, mich mit mir selbst zu beschäftigen. Ich habe gelernt, für mich einzustehen, allein essen oder intensiv spazieren zu gehen, vor allem im Wald. Dort bin ich der Natur sehr nahegekommen. Die letzte Operation aufgrund der Folgeschäden war 2010, danach konnte ich erst mit der inneren Heilung beginnen. Therapien sind wichtig, ich möchte keine Stunde missen, aber entscheidend war für mich, die Tür zu mir selbst zu öffnen und mich zu fragen: Was will ich wirklich? Vor Jahren ist es dann für mich ein richtiger Antrieb geworden, anderen Frauen Mut zu machen. Da­rum habe ich eine Ausbildung zur Sozial-, Bewusstseins- und Nachhaltig­keitspädagogin gemacht und mich entschieden, mit meiner Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. Es wird gerade an einem Buch über meine Geschichte gearbeitet und seit Oktober sind eine liebe Kollegin und ich bei „Mutausbruch“ aktiv.

Was ist „Mutausbruch“?
Eine Support-Group zur Stärkung von gewaltbetroffenen Frauen und FINTA-Personen. Wir bieten Treffen in Graz an, bei denen man ungezwungen, kostenlos und auf Wunsch anonym über Gewalterfahrungen sprechen und wieder ein soziales Umfeld aufbauen kann – so ähnlich wie bei einer professionell organisierten Selbsthilfegruppe. Gegründet wurde „Mutaus­bruch“ von Greta Pomberger, die im Rahmen ihrer Dissertation herausfand, dass es in Österreich zwar viele Angebote für Betroffene in Akutsituationen nach Gewalterfahrungen gibt, aber kein Langzeitangebot. Ich hatte schon vor über 20 Jahren den Wunsch, mich mit Gleichgesinnten auszutauschen, aber es war und ist sehr schwierig, mit gewaltbetroffenen Frauen in Kontakt zu kommen. Darum bin ich froh, dass wir seit Oktober diese zweiwöchentlichen Treffen anbieten können.

Was bräuchte es, um Frauen in Gewaltsituationen zu helfen?
Mehr Informationen und Anlaufstellen. Auch im Frauenhaus müsste viel mehr angesetzt werden. Frauen sind viel zu wenig informiert, was es alles für Möglichkeiten gibt. Viele werden eingesperrt, der Mann überwacht sie. Es ist auch wichtig, wenn möglich, darüber zu reden, auch online. Meistens ist es so, dass der Mann wie eine Spinne das Netz so eng spinnt, dass zum Schluss der Tod vorherbestimmt ist. Das wird oft nicht gesagt und viele Frauen glauben das nicht. Ich hätte damals auch nie geglaubt, dass mir das passiert. Zwar war ich eingesperrt, durfte teilweise nicht mal aufs WC gehen, aber die Polizei kam für mich nicht infrage, weil ich Angst hatte. Ich habe auch nicht gewusst, wie ich das finanziell schaffen sollte.

Frau sitzt eingekauert in einer Wohnungsecke
© Unsplash/Artem Beliaikin

Der Täter ist nach abgesessener Strafe wieder auf freiem Fuß. Wie geht es Ihnen damit?
Es besteht ein Annäherungsverbot von 50 Metern, und das weiß er sehr wohl. Wenn er es trotzdem missachtet, zeigt sich das als eindeutiger Schwachpunkt von seiner Seite. Aber mich berührt das nicht mehr, weil ich genau weiß, dass ich mich an das Gewaltschutzzentrum wenden kann und werde.

Haben Sie ihm verziehen?
Verzeihen … Ich würde sagen, ich habe ihn losgelassen. Denn ich habe es geschafft, nicht mehr mit mir mitzutragen, was er mir angetan hat – wenn man diese Wut in die nächste Beziehung mitnimmt, bringt einen das nicht weiter. Ich war sehr lang in dieser Wut drinnen, glauben Sie mir. Am Anfang habe ich ihm das Allerschlimmste gewünscht. Aber mittlerweile habe ich mich selbst, meine Folgeschäden und meine Erfahrungen angenommen und ihn in aller Würde losgelassen. Ich wünsche niemandem so einen elendigen Weg, nicht einmal ihm. Er könnte zu seinen Taten stehen, anderen Männern zeigen, dass Gewalt keine Lösung sein darf, und etwas bewegen.

Wie schaffen Sie es, nach all diesen schlimmen Erfahrungen so positiv zu sein?
Ein Naturcoach hat mir einen Ansatz mitgegeben, den ich versuche bei Herausforderungen anzuwenden: Ein kraftvolles Nein ist ein liebevolles Ja zu dir selbst. Generell hat mir die Natur immer sehr viel Kraft gegeben. Besonders in den letzten Jahren haben mein Partner und ich mit großer Begeisterung zu garteln begonnen, und meine Waldspaziergänge möchte ich nicht missen. Allgemein habe ich sehr viel mit mir selbst kommuniziert, Musik gemacht, geschrieben und gelesen.

Meine Entscheidung, keine Kinder zu haben, war und ist für mich richtig. Ich habe größten Respekt vor Frauen, die ihre Kinder durch so eine Zeit bringen müssen. Aber es ist wichtig, mir immer wieder Zeit für mich zu nehmen, den Kopf vom Gedankenmüll zu befreien und Energie zu tanken. Damit man nicht immer wieder so in die Erinnerung zurückfällt, was man erlebt hat – das bringt nichts. Aber diese Überlebensgeschichten kann man nicht auslöschen und es ist ein langer Weg, sie zu überwinden.

Ihr Wunsch für die Zukunft?
Anderen mit meiner Geschichte Mut zu machen. Vielleicht sogar auf Tour gehen, auch aufs Land. Veranstaltungen machen, wo ich von mir erzählen und auch fragen darf und Fragen beantworten – um Frauen irgendwie herauszu­bekommen aus solchen Situationen, weil man so auf sich alleine gestellt ist. Ich möchte Frauen begegnen, die den Mut hatten, aus der Gewaltspirale auszubrechen, und nun selbstbestimmt leben. Gemeinsam werden wir erreichen, dass wir Frauen auf allen Ebenen viel mehr Mitspracherecht bekommen, um Kindern ein Vorbild für ein gewaltfreies Leben zu sein.

www.mutausbruch.at

Das könnte dich auch interessieren:

Mehr über die Autorin dieses Beitrags:

© Marija Kanizaj

Betina Petschauer ist Redakteurin bei der STEIRERIN und hauptsächlich für die Ressorts Genuss, Leben, Freizeit, Menschen und Emotion zuständig. Als Foodie zieht sich die Leidenschaft für Essen und Trinken durch alle Bereiche ihres Lebens. Daneben schlägt ihr Herz für Serien, Filme und Bücher, die sie in der Rubrik „Alltagspause“ auch regelmäßig rezensiert.

Abo

Immer TOP informiert: Mit dem Print-Abo der STEIRERIN – ob als Geschenk, oder für dich selbst!