Sinnfindung

Auf der Suche nach dem Sinn

Warum die Suche nach dem Sinn unser Leben bereichert und wie sich aus Krisen neue Kraft schöpfen lässt: Sinnforscherin Tatjana Schnell im Interview.

10 Min.

© Pexels/Ben Mack

Es ist eine radikale Entscheidung, mit der in Zeiten wie diesen vielleicht viele heimlich liebäugeln: Warum nicht aufstehen, alles liegen lassen und einfach weg, irgendwo ganz neu anfangen? Die bedeutungsvolle Frage nach dem Warum hat viele Gesichter – sie kann nach schmerzhaften Ereignissen ebenso aufkommen wie in den stillen Momenten des Alltags, in denen die Routine plötzlich bedeutungslos erscheint.

Psychologin und Professorin Tatjana Schnell hat ihre Forschung der Sinnfindung verschrieben und zeigt in ihrem neuen Buch, aus welchen Quellen wir Inspiration und Lebensfreude ziehen und warum Sinnkrisen uns auf positive Weise verändern können. Die perfekte Gelegenheit für ein Gespräch zum Beginn der besinnlichen Zeit.

Sinnforscherin Tatjana Schnell
Tatjana Schnell ist Professorin für Existenzielle Psychologie in Oslo und erforscht die Frage nach dem Sinn seit über 20 Jahren. Nach ihrem Studium der Psychologie, Theologie und Philosophie in Göttingen, London, Heidelberg und Cambridge promovierte sie an der Universität Trier und war von 2005 bis 2024 an der Universität Innsbruck tätig. In Tirol hat sie mit sinnmacher.eu eine Plattform entwickelt, die Menschen auf dem Weg zu deren ganz eigenem Sinn begleitet. © Florian Lechner,
Frau Schnell, Sie forschen seit zwei Jahrzehnten zum Thema Sinn. Was haben Sie heute schon Sinnvolles getan?

Tatjana Schnell (lacht): Heute ist tatsächlich ein sehr außergewöhnlicher Tag. Unser neues Buch ist gerade erschienen, und ich konnte es zum ersten Mal in den Händen halten. Das war ein ganz besonderes Gefühl – und definitiv etwas Sinnvolles!

In Ihrem Buch erwähnen Sie, dass die Suche nach Sinn oft nicht leicht ist. Warum sollte man sich trotzdem auf diese Reise begeben?

Sich Gedanken über den Sinn zu machen, ist besonders dann von Bedeutung, wenn das Leben durch einschneidende Ereignisse unterbrochen wird. Eine Trennung, der Tod eines geliebten Menschen oder eine Krankheit – diese Situationen bringen uns dazu, uns zu fragen: Wie will ich weitermachen?

Dieses Innehalten ist eine natürliche Reaktion auf solche Lebensereignisse und ermöglicht es, sich intensiv mit dem eigenen Leben auseinanderzusetzen. Im hektischen Alltag, in dem wir oft wie in einem Hamsterrad in unseren Routinen gefangen sind, bleibt wenig Raum für solche Überlegungen. Die Sinnfrage fordert uns heraus, unser bisheriges Leben zu reflektieren und neu zu bewerten. Das kann anstrengend sein, weil es uns dazu bringt, Erwartungen zu hinterfragen, die wir bisher als selbstverständlich angesehen haben.

Letztlich lohnt es sich aber – schließlich leben Menschen, die Sinn sehen, gesünder und sogar länger, nicht wahr?

Ja, das ist wissenschaftlich belegt. Verschiedene Langzeitstudien zeigen, dass Menschen mit einer starken Sinnorientierung gesünder bleiben und länger leben – unabhängig von anderen Faktoren wie sportlicher Betätigung oder finanzieller Sicherheit. Es scheint, als ob Sinn einen zusätzlichen Schutzfaktor darstellt.

Andererseits: Wenn man sich die aktuelle Weltlage so ansieht, könnte man die Sinnfrage auch als First World Problem bezeichnen.

Das wird oft gesagt, ja. Dann heißt es, es sei ein Luxus, sich mit dem Sinn zu beschäftigen, doch dem kann ich nicht zustimmen. In anderen Ländern, wo das tägliche Überleben im Vordergrund steht, ist die Sinnhaftigkeit meist klar. Bei uns hingegen haben wir den „Luxus“, uns mit der Sinnfrage zu beschäftigen, weil es eben nicht klar ist, was zu tun ist.

Etwa in Umbruchsituationen, wie dem Abschluss eines Studiums oder dem Auszug der Kinder. Die Vielzahl an Optionen kann überwältigend sein, und doch müssen wir Entscheidungen treffen. Wir sind dafür verantwortlich, wie wir unser Leben und unsere Gesellschaft gestalten, und diese Freiheit bringt auch eine große Verantwortung mit sich.

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Ihre Studien haben gezeigt, dass ein sinnvolles Leben in den vergangenen Jahren wichtiger für viele Menschen geworden ist. Wie erklären Sie sich das?

Diese Entwicklung fiel mir erstmals nach der Finanzkrise 2008 auf. In dieser Zeit begannen mehr Menschen, ihre Lebensweise zu hinterfragen – insbesondere in Bezug auf Arbeit und Geld. Dies führte zu einem gesteigerten Interesse an der Sinnfrage.

In den letzten Jahren haben sich immer mehr Krisen entwickelt, wie der Klimawandel, der zunehmend ins Bewusstsein rückt. Durch diese ständige Konfrontation mit Krisen werden wir häufiger dazu gebracht, unser Leben zu überdenken.

Krisen hat es aber doch schon früher gegeben – und während der Weltkriege beispielsweise haben sich die Leute wohl kaum mit dem Sinn befasst.

Das ist ein guter Punkt. Im Vergleich zu früheren Krisen sind die heutigen anders geartet: Sie betreffen uns nicht immer unmittelbar, und wir können vielfach noch entscheiden, ob wir uns damit auseinandersetzen wollen oder nicht.

Wer sich darauf einlässt, beginnt einen wichtigen Frageprozess: Was ist ein gutes Leben für alle, und was trage ich dazu bei? Während es in Kriegszeiten oft einen klaren Zusammenhalt und ein gemeinsames Ziel gab, erleben wir heute eher eine Zerfaserung der Gesellschaft, was die Sinnfrage noch dringlicher macht.

Die stärkste Sinnquelle ist das Bestreben, dazu beizutragen, dass diese Welt eine gute bleibt.

Tatjana Schnell, Sinnforscherin
Woran erkennt man überhaupt, ob man ein sinnerfülltes Leben führt?

Sinn ist kein Gefühl wie Glück, das wir bewusst wahrnehmen. Es ist eher eine Grundlage, die uns Stabilität gibt und zum Handeln motiviert. Wir spüren ihn meist erst dann ganz deutlich, wenn er fehlt – so wie man Gesundheit erst schätzt, wenn man krank ist.

Mit der Frage, worin Menschen Sinn sehen, haben Sie Ihre Laufbahn als Wissenschaftlerin gestartet. Konnten Sie mittlerweile herausfinden, was die meisten Menschen antreibt?

Damals gab es noch kaum Forschung zu diesem Thema, also haben wir viele Jahre lang Menschen befragt und beobachtet, um herauszufinden, was sie im Leben trägt. Nach einer umfassenden Analyse und wissenschaftlichen Auswertung sind wir letztlich auf 26 verschiedene Sinnquellen gestoßen, die sich in fünf Dimensionen kategorisieren.

Die ersten beiden Dimensionen betreffen das Über-sich-Hinausgehen. Das kann durch Religion oder Spiritualität geschehen, aber auch durch Verantwortung für das größere Ganze: Natur, soziale Gerechtigkeit, eine lebenswerte Welt.

Die dritte Dimension ist die Selbstverwirklichung, und die vierte Dimension die Ordnung, die zum Beispiel Tradition und Bodenständigkeit umfasst. Die fünfte Dimension betrifft das Wir- und Wohlgefühl. Hier geht es darum, sich selbst und anderen Fürsorge zukommen zu lassen und Gemeinschaft zu pflegen.

Können Sie diese Sinnquellen ganz konkret umwälzen auf einen Ratschlag, wie man am ehesten zum Sinn kommt?

Unsere Forschung hat gezeigt, dass es nicht den einen Weg zum Sinn gibt, der für alle Menschen gleichermaßen gilt. Vielmehr positioniert sich jeder Mensch ganz unterschiedlich in diesen 26 verschiedenen Sinnquellen. Dabei ist es gut, in verschiedenen Bereichen involviert zu sein, und weder mich selbst noch das größere Ganze aus dem Blick zu verlieren. Die stärkste Sinnquelle ist dabei das Bestreben, dazu beizutragen, dass diese Welt eine gute bleibt.

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Studien zeigen auch, dass Sinnkrisen in den vergangenen zwei Jahrzehnten stark zugenommen haben. Wie geht man am besten mit einer solchen um?

Eine Sinnkrise ist oft eine schmerzhafte Erfahrung, aber birgt auch das Potenzial für persönliche Entwicklung. Viele Menschen fühlen sich allein in dieser Situation; dabei ist es ein normaler Prozess, der stattfindet, wenn wir fragen: Was bedeutet Leben eigentlich? Die ersten Jahre unseres Lebens verbringen wir damit, uns anzupassen und dazuzugehören. Doch irgendwann beginnen wir, diese Anpassung zu hinterfragen. Dieser Schritt ist schmerzhaft, weil er oft mit dem Loslassen der Illusionen verbunden ist, die uns bisher getragen haben – Illusionen wie: „Alles wird gut, wenn ich nur aufpasse“ oder „Die Welt ist gerecht“, die uns zwar gutgetan haben, aber nicht realistisch sind.

Das Akzeptieren der eigenen Verletzbarkeit und die Erkenntnis, dass das Leben brüchiger ist, als wir dachten, ist ein wichtiger Teil dieses Prozesses und eine besondere Stärke. Nicht die eines Superhelden, vielmehr beschreibt das Paradox der „Stärke durch Schwäche“, dass die Anerkennung unserer eigenen Verletzbarkeit uns letztlich widerstandsfähiger macht.

Eine Sinnkrise birgt Potenzial für persönliche Entwicklung.

Tatjana Schnell, Sinnforscherin
Mal angenommen, ich führe ein in meinen Augen sinnerfülltes Leben. Ist es dann auch automatisch ein glückliches?

Das Problem beim Streben nach Glück ist, dass wir uns ständig selbst beobachten und fragen, ob wir gerade glücklich sind. In unserer Gesellschaft, in der es uns materiell relativ gutgeht, wird oft erwartet, dass wir glücklich sein sollten. Auch Social Media und Werbung vermitteln oft den Eindruck, alle anderen seien glücklich. Wodurch wir uns noch schlechter fühlen, wenn wir es nicht sind.

Wer nach Sinn sucht, legt nicht so viel Wert auf gute Gefühle. Aber sie sind trotzdem da! Menschen, die tun, was sie richtig und wichtig finden, sind zufriedener mit ihrem Leben. Denken Sie nur an die Entscheidung, ob man joggen geht oder vor dem Fernseher bleibt. Obwohl es angenehmer sein mag, vor dem Fernseher zu sitzen, fühlen wir uns oft besser, wenn wir uns überwinden und joggen gehen, weil wir etwas getan haben, das wir als wichtig erachten.

Und was ist mit den Leuten, die keinen übergeordneten Sinn in ihrem Leben sehen und scheinbar auch keinen benötigen?

Klar, auch so kann man leben. Es ist nicht so, dass man automatisch krank oder depressiv wird, wenn man keinen Sinn im Leben hat. Laut psychologischen Studien neigen Menschen mit einer solchen Haltung dazu, nicht viel darüber nachzudenken, wer sie sind und welche Bedeutung ihr Handeln hat, und kommen trotzdem zurecht. Diese Einstellung kann funktionieren, ist jedoch oft weniger stabil: Wenn dann einschneidende Ereignisse passieren, kann diese Haltung schnell ins Wanken geraten und man fragt sich: Was zählt eigentlich wirklich?

Woher nehmen Sie denn eigentlich Ihre ganz persönliche Faszination für den Sinn?

Tatsächlich gab es keinen speziellen Moment, der alles verändert hat. Schon als Kind habe ich mich immer wieder mit solchen Fragen auseinandergesetzt und wollte wissen, was Leben bedeutet. Dieses Bedürfnis hat sich in meinem Studium fortgesetzt, die Art von Forschung, die ich betreibe, war damals noch unüblich, weil sich Psychologie und Wissenschaft lange Zeit nicht mit diesen Fragen beschäftigt haben.

Zum Abschluss: Was wünschen Sie sich, was die Menschen nach dem Lesen Ihres neuen Buches mitnehmen?

Sie sollen den Mut finden, sich auf das Leben einzulassen und herauszufinden, was für sie persönlich und gesellschaftlich wichtig ist. Und dann den Schritt wagen, das auch umzusetzen.

Sinn finden: Neues Buch
„Sinn finden – Warum es gut ist, das Leben zu hinterfragen“ von Tatjana Schnell und Kilian Trotier ullstein Verlag, ISBN: 978-3-550-20290-2, € 25,70 © Hersteller

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MEHR ÜBER DIE AUTORIN DIESES BEITRAGS:

Leonie Werus, Redakteurin für die Ressorts Genuss, Wohnen und Freizeit bei der TIROLERIN
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Leonie Werus betreut die Ressorts Genuss, Wohnen und Freizeit. Sie ist ein echter Workhaholic und weiß es jede Minute gut für sich zu nutzen. Mit ihren Airfryer, liebevoll Fritti genannt, probiert sie gerne neue Rezepte und versucht nebenbei das TIROLERIN-Team zum Sport zu motivieren – meist leider vergeblich.

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